An der Sonne - Kurze Geschichten über das Reisen

Zum ersten Mal habe ich eine meiner Sumatrageschichten bei einem Schreibwettbewerb eingereicht und tatsächlich wurde meine Kurzgeschichte zusammen mit 52 anderen in einer Anthologie veröffentlicht. Das Buch "An der Sonne" mit meiner Kurgeschichte über den Dschungel Sumatras (bzw. meine wahnwitzige Verirrung darin) erschien im Mai 2017. Ende Mai 2017 fand eine Vernissage mit Leseproben statt. Ich wollte natürlich dabei sein und  reiste für die Veröffentlichung in die Schweiz zurück. Zumindest für einen Stop-Over. 

 

"Danke vill vill mal allne wo s'Buech bstellt und/oder das Projekt mitere Spend unterstützt händ! Nur dank eu und euem Interesse wird en grosse Traum wahr – e Reisegschicht vo mir isch veröffentlicht worde."

 

Und nun folgt die Geschichte, eine wahre Begebenheit während meiner Reise im Frühling 2016:

 

Sumatrageschichten - Ur(wald)vertrauen

Ich liege im Bett in Lampuuk, am nördlichsten Zipfel der indonesischen Insel Sumatra. Es ist fünf Uhr morgens und ich höre das Meer rauschen. Der einfache Holzbungalow meiner guten Freundin Emma, die hier lebt und arbeitet, ist auf Stelzen in einen massiven Felsen direkt über dem Strand gebaut und weckt Robinson-Crusoe-Gefühle. Jedes Jahr besuche ich Emma und doch habe ich nie das Dickicht ums Eck erkundet. Aber heute ist ein idealer Tag für eine Dschungelwanderung. Unser tourguide of the day wird David sein, ein amerikanischer Freund von Emma. Er war schon oft hier und kennt sich aus. Zeit für Abenteuer.

Als wir loslaufen, ist die Luft noch kühl und angenehm. Schon bald erreichen wir den Regenwald und schlängeln uns den engen, steilen Pfad über Wurzeln, heruntergefallene Früchte und Blätter hinauf. Kaum eine Stunde unterwegs, schon sind wir klatschnass vom Schweiss und der extrem hohen Luftfeuchtigkeit.

Der Antimückenspray hält sein Versprechen nur bis zur ersten Verschnaufpause. Wir steigen höher und höher, das permanente Summen um Kopf, Arme, Beine begleitet uns. Ich ignoriere es und gehe weiter. Schritt um Schritt, zeitlupenartig. Zum Summen gesellt sich ein mir vertrautes Geräusch. Die Symphonie des Dschungels. Das Sirren, Zwitschern und Brüllen der kleinen und grossen Lebewesen, das Rauschen des Windes in den dichten Baumkronen, irgendwo in der Ferne das Plätschern eines Bächleins. Und dieser Duft. So frisch und rein. Die Bäume und Pflanzen atmen. Atmen den wertvollen Sauerstoff aus, den ich in langen, gierigen Zügen inhaliere. Die dicke Luft umhüllt mich, fühlt sich in meinen Lungen an wie Dampf.

Nach der ersten Etappe gelangen wir zu einer leerstehenden Hütte. Wir beschliessen, Rast zu machen. Ich setze mich auf den Boden und staune. Vor uns liegt ein kleines Tal, das ich beim Aufstieg nicht als solches wahrgenommen habe. Grün, grün, grün. Eine Farbe in so vielen Nuancen. Die Morgensonne dringt gedämpft durch das Blätterdach und legt tanzend einen goldenen Nebel über die friedliche Szenerie. Ich lasse mich einlullen von den Geräuschen, der Hitze, dem sanften Licht. Aber wir müssen weiter. Bevor es noch wärmer wird, wollen wir den Gipfel erklimmen. Die Aussicht werde mich noch mehr begeistern, sagen Emma und David. Dann los, ich lasse mich gerne begeistern.

Wir erreichen das Ende des Pfades und müssen einen Zaun entlang marschieren. An dessen Ende wartet ein Holztor, das an den Horrorfilm Blair Witch Project erinnert. Es ist so niedrig gebaut, dass wir entweder durchkriechen oder über den Zaun klettern müssen. Bald schon pirschen wir durchs Dickicht, an Lianen und Felsen vorbei. Manchmal auf allen vieren. Der Urwald scheint wie ein grosser Spielplatz.

Fast haben wir es geschafft, nur noch an einer mit dornigen Pflanzen bewachsenen Felswand vorbeitasten, einen Fuss vor den anderen und dann über eine grosse Baumwurzel hinauf zur Spitze.

Wir sind da. Sie hatten nicht zu viel versprochen. Die Aussicht verschlägt mir den Atem. Zaghaft mache ich einen Schritt nach vorne und halte mich an einem Ast fest. Vor mir liegt das Meer. Dunkelblau, mystisch, weit. Diese schier unendliche Weite ist gewaltig. Unter mir zieht sich der Sandstrand von Lampuuk in geschwungen Linien dem Wasser entlang. In der Ferne verschmilzt er im Dunst mit Meer und Regenwald zu einer unscharfen Masse. Ich atme tief ein, lächle, atme aus. Glücklich setze ich mich hin. David hingegen scheint rastlos. Er will eine weitere Hügelkette erklimmen. Bevor er losmarschiert, frage ich ihn nach dem Weg zurück. Er deutet mit dem Kopf in Richtung Emma, sie wisse wo lang. Emma ist eingeschlafen und so wende ich meinen Blick wieder dem glitzernden Meer zu und bin zufrieden.

„Wo ist David?“, fragt es hinter mir. Emma gähnt und ich sage ihr, dass er weiter gewandert ist. Zum zweiten Mal fällt die Frage nach dem Rückweg, aber nicht von mir. Ich bin verwirrt. Sie wisse doch wo lang, wiederhole ich Davids Worte. Aber Emma weiss nicht wo lang. Emma war erst einmal hier oben. Nichtsdestotrotz packen wir unsere Rucksäcke, steigen über die grosse Baumwurzel hinab und tasten uns an der Felswand vorbei. Wir müssen bergab bis zum Blair-Witch-Tor. Aber wie weit? Auf welcher Höhe liegt das Tor? Auf jeden Fall rechts von uns. Das ist alles, woran ich mich erinnere. Wir traversieren den Hang und stehen vor…Nichts. Kein Tor. Nur Abgrund. Wir klettern zurück zur Felswand um uns zu orientieren, wiederholen das Ganze. Nach drei misslungenen Versuchen sehen wir ein, dass wir keine Ahnung haben, wo wir uns befinden, wo wir herkamen und – noch wichtiger – wo wir hinmüssen. Auf der Suche nach dem Tor verirren wir uns immer weiter. Die Richtung scheint schon lange nicht mehr zu stimmen. Nichts sieht vertraut aus. Wo wir uns auch hindrehen, Lianen und Bäume, Bäume und Lianen. Hat es je vertraut ausgesehen? Waren wir schon einmal hier? Diese Pflanze hier. Kamen wir vor zehn Minuten an ihr vorbei?

Mücken umschwärmen uns, als wären wir ihr letztes Abendmahl. Stachelpflanzen krallen sich widerspenstig in unsere Kleidung, halten uns auf, halten uns zurück. Dornen zerstechen uns Arme und Gesicht. Dreck klebt an unseren Händen, unter unseren Fingernägeln. Vom Spielplatz von vorhin ist nicht mehr viel übrig. Der Dschungel wirkt jetzt düster und bedrohlich.

Wir folgen einem leeren Bachbett, weil ein Bach immer abwärts fliesst und wir schlussendlich am Fusse des Berges landen werden. Soviel zur Theorie. Der Bach endet jäh an einer Klippe. Rechts erhebt sich eine steile Felswand und schneidet uns den Weg ab. Kein Durchkommen. Das mulmige Gefühl wächst. Links erspähen wir einen riesigen, umgekippten Baumstamm. Wir balancieren bis in seine Mitte und bleiben dann kurz stehen. Blauer Himmel über uns. Kein Blätterdach, das uns die Sicht nimmt. Wir rufen nach Hilfe, schreien uns die Seelen aus dem Leib. Niemand hört uns, niemand ist da. Wir sind alleine, umgeben von Bäumen. Grün. Immer dieses Grün. Wir schauen uns an. Die Absurdität der Situation wird uns bewusst. Wir grinsen und schreien nochmals so laut wir können. Schreien um des Schreiens willen. Bis wir keine Luft mehr bekommen. Es ist unglaublich befreiend. Jetzt grinsen wir nicht mehr, wir lachen. Lachen über die Situation. Tragik, Komik, Ironie. Wir sind frei und sind doch nicht frei.

Das Schreien an der Sonne hat neue Energie freigesetzt. Ich schreite über die zweite Hälfte des morschen Baumstammes, Emma tut es mir nach. Ein Urvertrauen hat mich ergriffen. Mein Blick ist fokussiert.

An einer Hügelkette trennen wir uns kurz, Emma späht links hoch und ich rechts hinunter. Schlagartig realisiere ich, dass ich auf einem Pfad stehe. Ein Glücksgefühl durchströmt mich. Ich höre, wie meine Stimme sich überschlägt, als ich rufe: „Emma. Emma! Ich stehe auf einem Pfad. Ich habe einen Pfad gefunden.“ Der metaphorische Stein fällt von meinem Herzen. Innert drei Sekunden löst sich die Angespanntheit der letzten drei Stunden. Erst weine ich fast, dann lache ich. Wir umarmen uns, halten uns an den Händen und hüpfen auf und ab wie zwei Trampolinspringerinnen. Und mit einem Mal ist die Bedrohung des Regenwaldes verschwunden. Er ist, was er schon immer war, grün, lebendig, bis in die tiefste Faser meines Ichs durchdringend.

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